Meine Mama hat Demenz.
Nur ein Satz, nur vier Wörter. Und doch hat dieser Satz, haben diese Worte mein Leben in den vergangenen zwei Jahren auf den Kopf gestellt.
In diesem Blogartikel schaue ich zurück auf die Jahre, die nicht nur unsere Mutter komplett verändert, sondern auch mir und meiner Schwester viel abverlangt haben.
Der 80. Geburtstag
Meine Mama war immer die absolute Powerfrau. Hat alles mit Leichtigkeit organisiert, für alle mitgedacht und hatte einen großen Freundeskreis. Mit ihren Mädels hat sie tolle Reisen und Freizeitaktivitäten unternommen. Sie war immer die treibende Kraft. „Eri macht das schon, auf sie ist Verlass!“ Auch als Rentnerin hat sie bis zuletzt gearbeitet, im Hotel, als Hausaufgabenhilfe, als Bügelhilfe bei einem Pastor. Sie konnte einfach nicht stillsitzen und schon gar nicht gar nichts machen. Und am Liebsten hat sie ihre Geburtstage groß gefeiert! Dafür hat sie gerne gespart und viel ausgegeben. Sie liebte es einfach, im Mittelpunkt zu stehen, gut auszusehen, ihre Familie und Freunde um sich zu haben. So hat sie auch noch ihren 80. Geburtstag am 2. Juni 2019 feiern können. Aber der Geburtstag war schon … anders.
Anzeichen erkennen?
In unserer Familie war bis dato noch niemand mit Demenz erkrankt. Also hatten wir keine Erfahrung. Hätten wir es ahnen können? Ein halbes Jahr vor ihrem Geburtstag hatte Mama über Sehstörungen geklagt und wurde mit Verdacht auf Schlaganfall ins Krankenhaus gebracht und auf den Kopf gestellt. Ohne weitere Diagnose. Die Ärzte konnten nichts finden und schlossen den Fall ab mit: ist eben das Alter.
Heute würde ich die Anzeichen erkennen. Mama fing an, ihre Wohnung auszumisten. Sie wollte sich von alten Klamotten, Büchern, Möbeln etc. trennen. Sie kam auch auf die Idee, dass sie jetzt unbedingt eine neue Wohnung braucht. Sie brauchte Platz, fand sich nicht mehr zurecht, kleidete sich auch irgendwie seltsam unpassend.
Mama fühlte sich nicht mehr wohl, nicht mehr sicher.
Eine unerklärliche Unruhe überkam sie. Auch die Geburtstagsplanung fiel ihr schwer und machte ihr nur wenig Freude, sodass wir es in die Hand nahmen: Gäste auswählen, Einladungen drucken, Menü aussuchen. An ihrem Geburtstag merkten es dann alle, das war nicht mehr die Eri von früher.
Die Klinik
Nach dem Geburtstag ging es steil bergab. Mama konnte nicht mehr alleine in ihrer Wohnung sein. Sie wurde aggressiv und depressiv, verlor rapide an Gewicht und verließ die Wohnung nicht mehr. Meine Schwester und ich machten uns massiv Sorgen und sahen nur noch einen Ausweg: die Gerontopsychiatrie der LVR Klinik. Es ist nicht ganz leicht, dort einen Platz zu bekommen, das vorweg. Aber wir blieben hartnäckig und waren sehr erleichtert, als nach mehreren Anläufen endlich die Aufnahme bevorstand. Die Neurologin in der Klinik diagnostiziere mit einem Blick das, was wir schon befürchteten: vaskuläre Demenz.
Und Mama ging es erst mal wieder gut. In der Klinik bekam sie die Medikamente, die zumindest ihre Stimmung wieder auf ein nahezu Normalmaß brachten. Und wir haben dann mit ihr zusammen Entscheidungen treffen müssen. Neben der ergänzenden Vorsorgevollmacht haben wir auch die Betreuungs- und Patientenverfügung aufgesetzt und mit ihr besprochen, was wir im Fall der Fälle tun sollen und was nicht. Und das ist so wichtig! Das weiß ich heute. Dazu später mehr.
Hilfe annehmen im Alter oder bei Krankheit – häufig fällt uns das schwer. Unsere Kollegin Christiane Marsing ist seit Jahren ehrenamtlich in der Sterbebegleitung tätig und schildert uns ihre Alltagserfahrungen. Sie gibt wertvolle Tipps und erklärt, warum eine Vorsorgevollmacht so wichtig ist.
Das Seniorenstift
Nach ein paar Wochen in der Klink kam Mama dann zunächst für einen Monat in die Kurzzeitpflege in ein Seniorenzentrum. Das ist ganz sinnvoll, denn in dem Monat können beide Seiten testen, ob man zueinander passt. Mama hat sich direkt sehr wohl gefühlt, sodass wir den Vertrag für die Aufnahme unterschreiben konnten. Ich kann der Einrichtung auch nur 5 Sterne geben. Sie kümmern sich dort vorbildlich um die Bewohner, liebevoll, voller Respekt und Menschlichkeit. Das war für uns entscheidend.
Mama war am Anfang mit Feuereifer dabei. Sie hat jede Aktivität mitgemacht, ob es die Bastel- oder Turnangebote waren, das nachmittägliche Kaffeetrinken, das Essen in Gemeinschaft. Wir haben im Februar 2020 noch gemeinsam Karneval feiern können!
Corona
Ob ihre Demenz ohne Corona langsamer vorangeschritten wäre, ich weiß es nicht. Fakt ist, dass sie schon im 1. Lockdown unglaublich abgebaut hat. Wir durften sie anfangs gar nicht mehr, später nur mit „Abstand“ besuchen. Und ich glaube, dass der fehlende Kontakt zu ihrer Familie viel ausgemacht hat. Sie wurde immobil, das Gehen fiel ihr schwer, die Inkontinenz stellte sich ein. Auch das Sprechen wurde schwerfälliger, sie suchte verzweifelt nach Worten. Zum Glück kamen die Corona-Lockerungen im Sommer, sodass wir wieder zu Besuch kommen und mit dem Rollstuhl Ausflüge unternehmen konnten.
Was passiert jetzt mit ihr?
Die 2. Corona-Welle im Herbst und die Weihnachtszeit waren hart. Es gab auch Covid-Fälle im Heim, daraufhin wurde es hermetisch abgeriegelt. Die Angst hat uns schier verrückt gemacht. Zum Glück wurde Mamas Wohnbereich verschont. Aber es waren einsame Wochen. Für uns alle. Und als wir uns wiedersehen durften, war unsere Mama weg. Die Demenz war nun sehr weit fortgeschritten. Ich denke immer, sie hat sich auf ihre eigene Reise gemacht und kann uns nicht mitnehmen. Sie spricht nicht mehr und zeigt kaum noch Mimik. Ein Königreich für ihre Gedanken!
Und dann kam der Tag, an dem wir die für uns schwerste Entscheidung treffen mussten. Zusammen mit ihrer Ärztin und der Pflegeleitung haben wir verschriftet, dass es keine invasiven Maßnahmen, keine Reanimation, keine künstliche Ernährung geben wird. Wie gut, dass wir mit Mama dazu gesprochen haben, als sie es noch konnte. Es ist ihr Wille, und dem folgen wir, auch wenn es schwerfällt.
Denn der Abschied beginnt. Wir wissen nicht, wie lange er dauern wird. Jede Stunde, die wir mit ihr verbringen dürfen, ist kostbar.
Hinweis der Redaktion:
Judiths Mama ist am 22. Mai friedlich eingeschlafen. Judith und ihre Schwester konnten bei ihr sein. Wir sprechen hiermit unser aufrichtiges Mitgefühl aus und wünschen viel Kraft.
Umso wichtiger ist Vorsorge. Das Beste, was man hinterlassen kann: alles geregelt zu haben. Informiere dich hier!Â
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