Zwei Tage nach dem 82. Geburtstag meiner Mutter bekommen wir die vernichtende Diagnose: Knochenkrebs in der linken Schulter. Der Tumor hat bereits gestreut. Schnell ist klar, dass jegliche Therapie zu spät kommt. Es fällt mir schwer zu akzeptieren, dass die Tage mit meiner Mutter gezählt sind. Wie viel Zeit bis zum Abschied wird uns noch bleiben? Niemand weiß das. Wie gelingt mir eine würdevolle Begleitung meiner Mutter in den Tod? Und wer unterstützt mich, damit ich die verbleibende Zeit mit ihr noch genießen kann?
Dem Leben ergeben – unser Weg in die Palliativstation
Wie ist es möglich, dass man für einen Menschen nichts mehr tun kann? Dieser Gedanke lässt mich nicht los, trotz einfühlsamer und wertschätzender Verkündung der Diagnose durch eine junge Ärztin. Wir checken auf der Palliativstation des Krankenhauses ein und meine Mutter bekommt ein schönes, lichtdurchflutetes Zimmer mit großen Fenstern. Die gesamte Einrichtung ist in freundlichen Farben gehalten und eine Klimaanlage sorgt bei hochsommerlichen Temperaturen für eine angenehme Atmosphäre. Auf dieser Station soll es allen gut gehen, denn hier wird nicht mehr geheilt. Ziel ist es den Gesundheitszustand des Patienten zu stabilisieren, z.B. durch schmerzlindernde Medikamente.
Der Personalschlüssel in der Palliativabteilung ist viel höher als in den anderen Bereichen eines Klinikums. Liebevoll wird meine Mutter regelmäßig umgebettet, damit sich die schon sehr dünne Haut nicht aufliegt. Die Pfleger berühren sie, als wäre sie ein rohes Ei und es gibt viele Streicheleinheiten. Man streicht ihr über ihre Wangen, und ihre Beine werden täglich zärtlich mit Mandelöl gepflegt.
Individuelle Therapiemaßnahmen
Auf der Palliativstation werden meiner Mutter diverse Therapien angeboten. Mehrmals die Woche bekommt sie eine Musiktherapie, von der sie mir bei jedem Besuch vorschwärmt. Physiotherapeuten arbeiten mit ihr, soweit es ihre Schmerzen zulassen. Mit strahlenden Augen erzählt sie mir, dass sie auf einem Ergometer Fahrrad gefahren ist. Während einer Traumreise malt sie sogar noch ein Bild, das von jedem ihrer zahlreichen Besucher bewundert wird.
Wir beide Hand in Hand – wie in guten alten Zeiten
Da es keine festen Besuchszeiten gibt, bin ich jeden Tag bei ihr, oft zweimal am Tag. Ist sie gut drauf, spielen wir wie früher zusammen „Mensch-ärgere–dich-nicht“. Und sie gewinnt immer noch jedes Mal. Sie lacht und sagt: „Siehst Du, ich bin immer noch die gelbe Gefahr.“ Man könnte meinen, es ist alles wie früher.
In den Abendstunden schiebe ich mir einen bequemen Sessel neben ihr Bett und wir schauen miteinander das Vorabendprogramm. Meine Hand ist bei ihr unter der Bettdecke. Ihre Hand liegt auf meiner und wir sind darauf bedacht, nur keine kalte Luft an unsere Hände kommen zu lassen. Wehmütig kommen Kindheitserinnerungen in mir hoch. Ich denke an alte Zeiten zurück, in denen wir in der Sofaecke unter einer Decke lagen und miteinander kuschelten.
Auf der Palliativstation: Unterstützung von allen Seiten
Das Pflegepersonal und die Ärzte gehen sehr einfühlsam mit meiner Mutter um. Wenn ich auf die Station komme, werde ich begrüßt, als würde ich dazu gehören. Immer wenn ich nachfrage, „Hat sie gegessen?“ habe ich das Gefühl, ich hätte wieder ein Kindergartenkind.
„Nicht selten blühen die Menschen im Hospiz am Ende ihres Lebens für ein, zwei Tage auf und feiern sogar Partys. Sie wollen allen zeigen, dass es sich trotz aller Schmerzen gelohnt hat zu leben.“
click to tweetLetzte Station im Hospiz – die Uhren ticken noch langsamer
Nach einem Monat ist endlich ein Platz im Hospiz frei. Hier ist der Ort, an dem meine Mutter bis zu ihrem Tod bleiben darf und ich bin sehr erleichtert. Das Zimmer ist hell und freundlich. Es hängen bunte Bilder an den Wänden. Wir Angehörigen dürfen alles so einrichten wie es uns gefällt. Wenn wir möchten, können wir sogar eigene Bettwäsche mitbringen. Doch uns gefällt das Blumenmuster mit dem das Bett überzogen ist.
Es herrscht eine noch friedlichere Stimmung und Ausgeglichenheit. Alles ist erlaubt, niemand wird zu etwas gezwungen. Es gibt keine festen Essenszeiten, ob und wann der Patient Nahrung oder Flüssigkeit zu sich nimmt, entscheidet er allein. Die Pflegekräfte sind immer zur Stelle, wenn man sie braucht. Sie kümmern sich herzlichst um die Bewohner, und die Besucher werden ebenfalls liebevoll umsorgt. Auch das leibliche Wohl kommt nicht zu kurz. Ich erhalte zudem eine Broschüre über den möglichen „technischen“ Prozess des Sterbens. Dieses kleine Heft hilft mir, den Tod und den Abschied von meiner Mutter besser zu verstehen.
Leben bis zuletzt – die letzten zwei Tage
Meine Mutter bekommt nochmals Besuch von ihren Freundinnen. Mit strahlenden Augen erzählt sie mir, dass das Geschrei, dass sie veranstaltet haben, so laut war, dass man kaum noch die Autos auf der Straße gehört hätte. Ja, sie hat die Zeit mit ihren Freundinnen noch einmal richtig genossen.
Nicht selten blühen die Menschen im Hospiz am Ende ihres Lebens für ein, zwei Tage auf und feiern sogar Partys. Damit bäumen sie sich gegen das soziale Sterben auf. Sie wollen allen zeigen, dass es sich trotz aller Schmerzen gelohnt hat zu leben.
Mein zwölfjähriger Sohn ist überglücklich. Endlich hat er seine Oma bei sich in der Nähe! Die beiden vereinbaren, dass er Samstag bei ihr im Hospiz übernachten darf: „Ja Oma, dann gucken wir miteinander fern, wie sonst auch immer!“ Und meine Mutter freut sich so. Als wir zum Auto gehen, steht sie auf dem Balkon und winkt uns zu. Die Pflegerin, die hinter ihr steht und sie festhält, bemerkt man fast gar nicht.
Zeit des Abschieds im Hospiz
Von heute auf morgen verändert sich ihr Zustand drastisch. Sie verweigert jegliche Nahrung- und Flüssigkeitsaufnahme. Ein Gespräch mit ihr ist kaum mehr möglich. Früher lag ich neben ihr im Bett und lauschte, jetzt ist es umgekehrt. Ich lese ihr vor. Ich spüre, wie gerne sie mir zuhört.
Nach einem Anruf vom Arzt, kommen wir nochmal alle zusammen, um uns zu verabschieden. Sie atmet schwer. Ich bleibe zurück. Ruhe im Raum der Stille, bis mich in der Nacht die Schwester holt. Bei ihren letzten Atemzügen sitze ich am Bett und halte ihre Hand, streichle ihren Arm. Dann gebe ich ihr zum Abschied noch schöne Grüße an meinen Vater mit auf den Weg. Sie geht. Jetzt habe ich keine Eltern mehr.
Der Schmerz in mir
Mir zerreißt es das Herz. Doch obwohl der Schmerz groß ist, fühle ich in mir einen inneren Frieden. Ich konnte mich auf ihren Tod einstellen und Prozesses des Abschieds und darüber hinaus von wunderbaren Menschen begleitet. Auch heute, nach zwei Monaten, tut es immer noch weh und doch bin ich mit mir im Reinen. Immer wenn mich der Schmerz einholt, sind genug Menschen da, um mich aufzufangen. Dafür bin ich dankbar.
Papierkram in Zeiten der Trauer
Der Leichnam im Hospiz muss nicht sofort abgeholt werden, dennoch wartet auf mich viel Bürokratie. Beim Bestattungsinstitut wissen wir genau, welche Leistungen wir möchten. Die Kosten für die Beerdigung belaufen sich auf gut 7.000 Euro. Unentwegt flattern zudem Rechnungen von Ärzten und Apotheken ins Haus. Nicht zu vergessen, die Miete, die für weitere drei Monate bezahlt werden muss. Gott sei Dank hatte meine Mutter gut vorgesorgt. Sie hatte nicht nur eine Versicherung, die diese Kosten abgedeckt hat. Auch meine Vollmachten waren über ihren Tod hinaus gültig, sodass die finanzielle Abwicklung mir keine grauen Haare bescherte.
Was ich jedem mitgeben möchte
Nimm Hilfe an. Sorge in guten Zeiten vor, mit z. B. einer Sterbegeldversicherung oder einer Vorsorgevollmacht mit Patientenverfügung. Von meiner Familie, meinen Freunden und Kollegen wurde ich durch diese schwere Zeit getragen. Jeder, der uns kannte, hat sich sowohl um meine Mutter als auch um uns gekümmert. Danke, denn alleine hätte ich das nie durchgestanden.
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